Joe Kaeser, Vorstandsvorsitzender von Siemens, spricht sich entschieden gegen einen eventuellen zweiten wirtschaftlichen Lock-Down aus.

Die Gesellschaft und die Politik müssen eine unvoreingenommene Analyse der Maßnahmen und Folgen des ersten Corona-Lock-Downs durchführen. Der Lock-Down war eine Reaktion auf eine bisher nicht gekannte Notsituation und daher ohne konkrete Erfahrungswerte. Jetzt sind wir in der Lage, die Auswirkungen realistisch einzuschätzen, betont Joe Kaeser, Siemens-Chef, gegenüber dem „Handelsblatt“. Das Ergebnis ist für uns klar, es darf keine Wiederholung des ersten geben.
Die ökonomischen Folgen der letzten Wochen sind derart gravierend, dass nicht nur die Existenz von Unternehmen und damit viele Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, sondern der soziale Friede insgesamt. Wir sollten zeitnah eine Strategie entwickeln, wie wir auf ein erneutes Ansteigen der Infektionszahlen reagieren können, ohne wieder flächendeckende Beschränkungen des öffentlichen Lebens zu verhängen. Die Durchführung von regelmäßigen Corona-Tests wäre eine Option, die es durchzudenken gilt, erklärt der Siemens-Chef. Eine erfolgreiche Corona-Strategie muss flexibel, zielgerichtet und regional begrenzt sein und darf nicht noch einmal die gesamte Republik lahmlegen. Auch wenn die Infektionszahlen sinken, ist die Corona-Krise noch nicht überwunden. Es wird noch zu erheblichen Eingriffen in das gesellschaftliche Leben kommen. Es ist nur eine Normalisierung auf Widerruf, gibt Kaeser im „Handelsblatt“ zu bedenken.
Der Lock-Down hat zu Einschränkungen vitaler Grundrechte geführt. Dies galt von Besuch von Gottesdiensten bis zur Bewegungs- und Versammlungsfreiheit. Die Gesellschaft benötigt derzeit dringend eine korrekte Datenbasis, auf deren Grundlage Entscheidungen getroffen werden könnten. Wir müssen zeitnah und gezielt handeln, wenn es notwendig ist. Die Corona-App kann ein wichtiger Teil dieser Strategie sein, aber kein Allheilmittel.
Europa muss eine eigenständige Antwort auf die Herausforderungen finden, sonst wird die Corona-Pandemie zu einer Stärkung der USA und Chinas führen. In den USA zahlt sich aus, dass die Digitalisierung der Wirtschaft weiter fortgeschritten ist und entsprechende Plattformtechnologien zur Verfügung stehen. Für China spreche die kurzfristig effektivere Reaktionsfähigkeit einer staatlich gelenkten Wirtschaft. Für Europa ist die Corona-Pandemie Chance und Risiko zugleich. Europa benötigt dringend eine einheitliche Wirtschaftspolitik, die von einer gemeinsamen Sicherheitspolitik flankiert werde. Um entscheidungsfähig zu bleiben, sieht der Siemens-Chef vor allem das Einstimmigkeitsprinzip auf dem Prüfstand. Auch die Wirtschaft müsse sich auf mögliche folgende Krisen einstellen und handlungsfähiger werden. Dazu zählt Kaeser eine Reform des Bilanz- und Eigenkapitalrechts. Gerade bei den großen, international aufgestellten Konzernen wird eine ausreichende Kapitaldeckung in Zukunft existenziell sein. Dividenden und Aktienrückkäufe im großen Stil sollen nur bei einem ausreichenden Kapitalstock möglich sein, fordert Kaeser im „Handelsblatt“. Die internationalen, aber vor allem auch die europäischen Finanzmärkte müssen so gestaltete sein, dass Unternehmen gewisse Grenzen der Eigenfinanzierung nicht unterschreiten dürfen und aggressive Entnahmen aus dem Eigenkapital ausgeschlossen sind. Dafür ist eine europäische Finanzpolitik notwendig und dringend gefordert, mahnt Joe Kaeser gegenüber dem „Handelsblatt“.

Redaktion poppress.de, NeoMatrix