Der ehemalige Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof bezweifelt die Verfassungsmäßigkeit eines erneuten Corona-Lock-Downs.

Die Diskussionen um einen zweiten Corona-Lock-Down aufgrund der rapide steigenden Infektionszahlen werden zunehmend kontrovers. Mit Ferdinand Kirchhof hat sich ein prominenter Jurist gegen die Zulässigkeit eines erneuten Lock-Downs ausgesprochen. Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe sieht weder inhaltlich noch von der rechtlichen Kompetenz derzeit eine Handhabe zu einer weiteren Beschränkung des öffentlichen Lebens, wie er in der „Welt“ ausführt. Handelte es sich bei den ersten Maßnahmen noch um einen Präzedenzfall, sind die Konsequenzen einer derartigen Strategie nunmehr bekannt. Deshalb müssen die Kriterien anders gesetzt werden und es muss eine deutlich erhöhte Gefährdungslage bestehen als im März, betont Kirchhof. Während die wirtschaftlichen Folgen des ersten Lock-Downs noch durch staatliche Hilfspakete zum Teil ausgeglichen werden konnten, ist der Handlungsspielraum des Staates aktuell erheblich eingeengt. Für die Gastronomie, die Tourismusbranche oder den Einzelhandel käme eine zweite Schließung einem Berufsverbot gleich. Das Grundgesetz garantiert allerdings in Artikel 12 Berufsfreiheit, was den potentiellen Schließungen diametral widerspricht, warnt der Ex-Verfassungsrichter.
Durch einen Lock-Down werden auch weitere Grundrechte erheblich eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. So zum Beispiel Artikel 2 GG, der als eines der höchsten Rechtsgüter die Handlungs- und Bewegungsfreiheit festschreibt. Zu einer terminierten zeitweisen Aussetzung von Grundrechten, bedarf es einer umfassenden Begründung durch eine existenzielle Bedrohung des Gemeinwesens. Ein allgemeiner Hinweis auf eine potentielle Gefährdung der Funktionalität unseres Gesundheitswesens reicht juristisch zur Begründung der Maßnahmen nicht aus, betont Kirchhof.
Eine Einschränkung der Grundrechte bedarf der Notwendigkeit einer akuten Gefahrenabwehr. Eine disziplinarische Funktion gegenüber den Bürgern kann ebenfalls keine ausreichende Basis bilden. Eine erneute Beschränkung ist nur dann statthaft, wenn sie sich auf Risiken in konkreten Zusammenhängen richtet. Dies bedeutet, dass sie nur fallbezogen und für jede Branche und Veranstaltung individuell ausgesprochen werden kann. Der Staat als Akteur ist hierbei in der Pflicht, die Zweckmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nachzuweisen. Eine parallele Rechtsgrundlage liegt bei regionalen Lock-Downs vor. Die rechtlichen Einschränkungen müssen zentral auf die Eindämmung des Infektionsgeschehens bezogen sein, fordert der Jurist. Den für das Berchtesgadener Land verkündeten Lock-Down hält Kirchhof deswegen auch für juristisch anfechtbar. Eine Infektionsabwehr muss konkret sein und sie muss ein zentraler Bestandteil einer umfassenden Strategie sein. Ist dies nicht der Fall, werden die Regelungen vor Gericht keinen Bestand haben.
Der ehemalige Vizepräsident des Verfassungsgerichts bemängelt bei den bisherigen Entscheidungsprozessen die Umgehung demokratischer Prinzipien. Die Parlamente wurden nicht einbezogen und die Maßnahmen als Verwaltungsakte deklariert. Die Exekutive in Form der Bundesregierung und der Landesregierungen darf sich nicht über die Judikative und Legislative hinwegsetzen, warnt Kirchhof. In der jetzigen Situation bedarf eine Einschränkung der Grundrechte einer legislativen und juristischen Legitimation. Dies gilt für die Bundes- und Landesebene. Den Hinweis auf das Bundesseuchengesetz und die dort geregelten Eingriffsmöglichkeiten, lässt Kirchhof nicht gelten. Der Infektionsschutz deckt individuelle Maßnahmen in strikt begrenztem Umfang, aber keine Entscheidungen, die sich auf ganze Regionen oder das gesamte Bundesgebiet beziehen, beklagt der Verfassungsrichter in der „Welt“.

Redaktion poppress.de, NeoMatrix