Zwischen Erinnerung und Gegenwart: Michel Friedmans Warnung und das digitale Projekt „In Echt?“ als Wegmarke für neue Demokratiebildung

Potsdam – Das Hin und Her um Michel Friedmans Einladung offenbart eine schleichende Verschiebung gesellschaftlicher Werte: Plötzlich gelten Mahner statt Hetzer als das Problem. Der prominente Publizist war für eine Hannah-Arendt-Lesung zunächst eingeladen und aufgrund seiner klaren Position gegen Antisemitismus wieder ausgeladen. „Wenn die Mahnworte unbequem sind, dann läuft etwas grundlegend schief“, kommentiert Friedman den Vorfall und unterstreicht die Dringlichkeit von Engagement und neuer Formen historischer Bildung.

heute 15:03 Uhr | 62 mal gelesen

Der Vorfall um die Ausladung Michel Friedmans aus dem Literaturhaus Klütz ist mehr als eine lokale Kuriosität – er steht exemplarisch für eine Zeit, in der demokratische und menschliche Grundwerte ins Rutschen geraten. Während antisemitische Sätze oft geduldet werden, sieht man Menschen, die dagegenhalten, zunehmend als Störenfriede. Friedman reagierte keineswegs abwartend, sondern übernahm die Schirmherrschaft einer bundesweiten VR-Ausstellung namens 'In Echt? - Virtuelle Begegnung mit NS-Zeitzeug:innen', ein Projekt, das Erinnern durch moderne Technik in Gegenwart überträgt. Der Grundgedanke dahinter ist simpel und doch brisant: Die Geschichten von Überlebenden der Shoah sollen, auch wenn die Zeit selbst vergeht, weiterhin erfahrbar bleiben – und zwar nicht verstaubt im Archiv, sondern lebendig, fast wie im direkten Gespräch. Besucher begegnen virtuell fünf jüdischen Zeitzeug:innen, erleben die Shoah aus erster Hand und spüren, dass Distanziertheit gefährlich wird. Es braucht keine perfekten Übergänge zwischen Lernen und Fühlen: Wer etwa Ruth Winkelmann oder Leon Weintraub per VR-Brille gegenübersitzt, merkt schnell, dass Erinnerung auch ein körperlicher Akt sein kann. Doch das Projekt besteht nicht nur aus Bits und Bytes. Hinter der modernen Fassade steht ein pädagogisch durchdachtes Format: Das Brandenburg Museum für Zukunft, Gegenwart und Geschichte, in Zusammenarbeit mit der Filmuniversität Babelsberg, hat einen Workshop für Jugendliche und Erwachsene entwickelt, in dem Technik nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur echten Teilhabe ist. Die VR-Erfahrung wird ergänzt durch Lernparcours, Originaldokumente, Grafiken, Biografien und übersetzte Angebote in zahlreichen Sprachen. Der unmittelbare Eindruck: Erinnerung wird zur ganzheitlichen Erfahrung, die den Zuschauer zwingt, sich zu positionieren – auch zu heutigen Formen von Ausgrenzung und Antisemitismus. Konsequenz ist ausdrücklich erwünscht: 'Erinnern ist kein Zurückblicken, sondern ein gemeinsames Nachvornegehen', so ein O-Ton aus dem Team. Und die Nachfrage spricht für sich: Mit 20.000 Besucher:innen, davon 3.000 Schüler:innen, zählt „In Echt?“ bereits zu den erfolgreichsten Bildungsprojekten für digitale NS-Zeitvermittlung. Die Resonanz ist nicht nur lokal spürbar – Medien von ARTE bis zur Tagesschau berichteten, und Anfragen aus Forschung und Zivilgesellschaft häufen sich. Anhand von Besucherfeedback zeigt sich, wie sehr die Distanz zu Zeitzeugen durch Technik überwunden werden kann – ein Schüler schrieb etwa: 'Es war, als würde man nebeneinander am Küchentisch sitzen.' Dass das Projekt weitergehen muss, steht für die Initiatoren außer Frage, auch wenn Förderung und Finanzierung im Jahr 2026 unsicher sind. Brandenburg ringt, wie viele Bundesländer, mit wachsendem Rechtsextremismus und Gleichgültigkeit. Die Projektmacher sehen ihre Arbeit deshalb nicht als museale Pflichtübung, sondern als gesellschaftliche Notwendigkeit – Kooperationen zwischen Museen, Schulen, Universitäten und Kulturschaffenden sollen dauerhaft gestärkt werden. Ab 2025 geht „In Echt?“ auf weitere Tour durch das Land, zahlreiche neue Orte stehen auf dem Programm. Bis Ende des Jahres wird außerdem eine wissenschaftliche Begleitpublikation erscheinen, die nicht nur die digitale Erinnerungskultur beschreibt, sondern kritisch hinterfragt, wie Technik neue Türen öffnet – und an welchen Stellen Augenmaß gefordert bleibt. Erinnern darf nie bloß hermetische Geschichtsstunde sein, sondern muss Fragezeichen hinterlassen. Vielleicht braucht es manchmal das holprige Gespräch per VR-Brille, um zu merken: Die Vergangenheit ist oft näher an uns dran, als wir denken.

Der Umgang mit Antisemitismus, wie Friedmans Ausladung verdeutlicht, bleibt ein Gradmesser für die demokratische Reife in Deutschland. Projekte wie „In Echt?“ übersetzen Erinnerungsarbeit ins digitale Zeitalter und erreichen damit Zielgruppen, die klassische Gedenkformate kaum mehr berühren würden. Laut aktuellen Medienberichten und Stimmen von Expert:innen wachsen gesellschaftlicher Druck und rechte Ideologien, sodass es innovativer Impulse in der Bildungsarbeit bedarf. Besonders erwähnenswert sind jüngste Debatten um die zunehmende Normalisierung von Hassbotschaften im öffentlichen Raum – ein Trend, der sich laut „Tagesspiegel“ und „Süddeutscher Zeitung“ durch die sozialen Medien verschärft und politisch brisant ist. Dazu kommt, dass in den Tagen nach Friedmans Vorfall mehrere Organisationen und Politiker vor einer „Erosion des demokratischen Diskurses“ gewarnt und explizit Projekte wie „In Echt?“ als Gegenentwurf zur Gleichgültigkeit bezeichnet haben. Kurzum: Die Schere zwischen Erinnerungskultur und Alltagsrealität klafft weiter auseinander, sodass niedrigschwellige, auch technikbasierte Angebote unverzichtbar sind – für Schulen wie für die allgemeine Gesellschaft.

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