Sigmar Gabriel, früherer Vizekanzler und mittlerweile Chef der Atlantik-Brücke, tritt unerwartet deutlich auf den Plan. In einem Interview mit der „Rheinischen Post“ spricht er unumwunden aus, was viele denken, aber seltener so offen formulieren: Die grübelnde Erwartung, dass die neue US-Strategie irgendein Novum beinhalten könnte, sei naiv. Der Kurs der Trump-Regierung, etwa der offene Umgang mit Russland oder die Haltung zu Europas Sicherheit, habe sich ohnehin abgezeichnet. Gabriel bringt es ironisch auf den Punkt: Würde man die ganzen Statements aus Washington in eine KI wie ChatGPT tippen, käme wohl diese neue, „revolutionäre“ Sicherheitsstrategie heraus. Für die Europäer könne das eigentlich nur bedeuten: weniger Anbiederung, mehr Selbstbewusstsein. Vor allem müsse Europa wirtschaftlich aufholen, um in den Augen der Amerikaner überhaupt als ernstzunehmender Partner zu gelten. Er warnt zugleich: Schmeichelei („Liebedienerei“) gegenüber Trump bringe gar nichts. Militärisch empfiehlt er den Aufbau eines kräftigen europäischen Pfeilers – allerdings innerhalb der NATO und in enger Kooperation unter anderem mit Großbritannien und Kanada. Auf die Idee einer eigenständigen EU-Verteidigungsarchitektur hält er wenig, zu kompliziert, zu oft blockiert – siehe Ungarn. Stattdessen spricht er sich flexibel für Sicherheitskooperationen auch jenseits der Nato aus, wenn es nützt. Nicht immer ganz geradeaus formuliert, aber im Kern engagiert und skeptisch gegenüber Schönrednerei.
Gabriels Position – manchmal sogar bewusst spitz präsentiert – ist glasklar: Europa muss raus aus der Zuschauerrolle. Die aktuelle US-Politik, die sich zunehmend in Eigenständigkeit und einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber den Bündnispartnern übt, gibt für ihn die Marschrichtung klar vor. In einer Zeit, in der etwa der Ukraine-Krieg und geopolitische Unsicherheiten rapide wachsen, reicht es nicht länger, auf die Amerikaner zu vertrauen oder auf langsame Kompromisse in der EU zu hoffen. Auch neuere Berichte und Kommentare betonen, dass die Rufe nach mehr Selbstständigkeit der EU lauter werden - vor allem militärisch, aber auch wirtschaftlich, insbesondere wegen der wachsenden Konkurrenz aus China und der Gefahr einer Entkopplung von den USA. Interessant ist dabei, wie groß die Skepsis gerade in Deutschland bleibt: Während einerseits Forderungen nach mehr Verteidigungsbereitschaft wachsen, gibt es noch keine breite gesellschaftliche Debatte über die finanziellen und politischen Folgen. Die aktuelle Debatte spiegelt auch die Unsicherheit wider, wie schnell und wie weit Europa tatsächlich unabhängig von den USA agieren kann. All das fügt sich zu einem Bild, bei dem Gabriel weder benebelt schwärmt, noch in lähmende Pessimismus verfällt, sondern zu pragmatischer Eile drängt.