Hans-Werner Sinn: Weniger Komfort, mehr Einsatz – Debatte um Lohnfortzahlung bei Krankheit

Der prominente Ökonom Hans-Werner Sinn bringt frischen Wind in die Diskussion um Arbeitsethik und Sozialstaat: Sind wir in Deutschland einfach zu bequem?

15.10.25 19:22 Uhr | 88 mal gelesen

Wenn man sich mal die nackten Zahlen anschaut, tritt schon Erstaunliches zutage: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland rangieren, was die jährliche Arbeitszeit angeht, im internationalen Vergleich am unteren Ende. Das jedenfalls postuliert Hans-Werner Sinn, der mit seiner steilen These im Focus kein Blatt vor den Mund nimmt. Seine Argumente? Viele Feiertage, üppiger Urlaub – und, jetzt kommt’s: Der häufige Griff zum gelben Schein, vor allem rund um Brückentage und Montage. Sinn malt ein deutliches Bild: Er sieht das Sozialsystem als etwas, das nicht wenige offenbar gerne und regelmäßig strapazieren, auch wenn nicht jede Krankmeldung zwingend notwendig sein müsste. Seine Lösung klingt für deutsche Ohren vielleicht ungewohnt harsch: Kein Arbeitgeber sollte verpflichtet sein, den ersten Tag einer Krankschreibung zu vergüten. Ein kleiner Schreckschuss – so Sinn –, der die Eigenverantwortung schärft. Denn, Zitat: 'Ein bisschen Risiko im Krankheitsfall lässt sich zumuten.' Was ich mich frage: Trifft so ein Ansatz wirklich den Kern des Problems? Oder schiebt Sinn hier nicht doch zu viel auf individuelle Schultern, wo es eigentlich strukturelle Fragen zu klären gäbe? In anderen Ländern gibt es auch keine Lohnfortzahlung am ersten Tag, und doch stellt sich die Moralfrage dort ähnlich oft. Vielleicht sticht aber auch allein die Art, wie man darüber redet.

Sinns Vorschlag, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag abzuschaffen, sorgt für deutliche Kontroversen. Während er argumentiert, dies könne den Missbrauch von Krankmeldungen eindämmen und die jährliche Arbeitszeit in Deutschland erhöhen, werfen Kritiker ein, dass solch ein Schritt Geringverdienende besonders hart treffen und das Vertrauensverhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern schwächen könnte. Neue Studien und Stimmen aus Gewerkschaften wie auch aus der Wirtschaft bestätigen, dass Deutschland zwar im EU-Vergleich tatsächlich viele Urlaubstage und Feiertage hat, das Krankenstandsniveau aber vor allem durch psychische Belastungen und Arbeitsverdichtung beeinflusst wird – Faktoren, die sich nicht einfach durch ein Streichen der Lohnfortzahlung lösen lassen. Darüber hinaus haben zahlreiche europäische Länder bereits ähnliche Modelle getestet, oft ohne nennenswerten Rückgang von Krankmeldungen, dafür aber mit mehr Unsicherheit für Beschäftigte. Laut aktuellen Debatten in Medien werden zudem die gesamtgesellschaftlichen Folgen wie Produktivitätseinbußen, soziale Unsicherheit und das Risiko von Präsentismus – also krank zur Arbeit zu kommen – kontrovers diskutiert.

Schwerpunkte anderer Leitmedien zu diesem Thema

Ein SZ-Artikel analysiert die aktuellen Vorschläge zur Begrenzung der Lohnfortzahlung bei Krankheit, betont dabei aber insbesondere die arbeitsrechtlichen und gesellschaftlichen Implikationen: Viele Arbeitnehmer befürchten laut Bericht eine Schwächung ihres Schutzes, während Arbeitgeberverbände ehrlicherweise eine moderate Senkung der Fehlzeitentage erwarten; gleichzeitig ruft der Bericht dazu auf, vorsichtiger mit Pauschalurteilen umzugehen. (Quelle: Süddeutsche Zeitung)

Ein ausführlicher Beitrag auf Zeit Online erläutert die volkswirtschaftlichen Hintergründe steigender Krankenstände, beleuchtet dabei neben gesetzlichen Regelungen auch eine wachsende Zahl psychischer Erkrankungen, die immer häufiger längere Ausfallzeiten verursachen; abschließend wird betont, dass bloße Kürzungen bei der Lohnfortzahlung nicht automatisch zu weniger Fehlzeiten führen. (Quelle: Die Zeit)

Der FAZ-Artikel von heute beleuchtet die Debatte aus Sicht der Unternehmen und Arbeitnehmervertretungen, berichtet von ersten Pilotprojekten aus Skandinavien und Großbritannien, und befasst sich darüber hinaus mit rechtlichen Fragen zu Datenschutz beim Umgang mit Krankheitsmeldungen; die Autoren kommen zum Schluss, dass Vertrauen und Prävention wohl nachhaltigere Effekte hätten als Sanktionen. (Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Schlagwort aus diesem Artikel