Andreas Voßkuhle – lange Jahre oberster Richter am Bundesverfassungsgericht – hat jüngst im Gespräch mit dem Tagesspiegel einen durchaus polarisierenden Vorschlag gemacht: Jeder und jede sollte, so seine These, im Internet unter dem echten Namen auftreten. Die Hoffnung dahinter klingt fast nach sozialer Romantik: Weniger Hass und Hetze, mehr Sachlichkeit. "Damit könnten wir die Diskussionskultur entschärfen", meint Voßkuhle. Doch er gibt selbst zu, dass die Umsetzung heikel wäre, nicht zuletzt, weil die Verfassung Spielraum, aber auch Grenzen setzt. Es müsse, das betont er mehrfach, weiterhin erlaubt bleiben, Regierungskritik zu üben, ohne sofort persönliche Nachteile zu fürchten.
Interessanterweise argumentiert Voßkuhle mit einem fast schon paradoxen Gesellschaftsbild: Je mehr Führung sich die Menschen wünschten, desto unsicherer würde die gesellschaftliche Stimmung – befeuert durch überhitzte Online-Debatten und schnelle Medienreaktionen. Diese ständige Aufgeregtheit halte eine Gesellschaft letztlich nicht aus. Nebenbei: Voßkuhle kennt als Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie" und Uni-Professor die deutschen Streitkulturen nur zu gut. Zwischen den Zeilen klingt Zweifel an, ob das Internet jemals wieder "entschleunigt" werden kann – aber der Gedanke an mehr Verantwortung im Netz lässt ihn nicht los.
Voßkuhle bringt eine alte Debatte zurück auf den Tisch – Klarnamenpflicht soll das Netz zivilisieren. Einfach wäre das politisch und rechtlich kaum, wie etwa der Blick auf juristische Kommentare zeigt: Kritiker warnen vor drohender Überwachung und dem Verlust wichtiger Freiräume, insbesondere für Whistleblower oder Bürger, die sich zur Wehr setzen wollen. Die Nachrichtenlandschaft beleuchtet das Thema teils skeptisch: Bei der Süddeutschen wird etwa betont, dass Anonymität für viele Schutz bedeute, während die taz auf Risiken für Minderheiten eingeht, sollten Namen öffentlich erkennbar sein. Doch: Übereinstimmend herrscht Besorgnis um zunehmend aggressive und polarisierende Debatten im Netz, die offenbar nach Lösungen verlangen – völlig unabhängig davon, wie praktikabel Voßkuhles Ansatz erscheint.